Vor langer Zeit trug es sich in China zu, dass ein hungriger alter Mann vor das Haus eines reichen Mannes trat und demütig um eine Speise bat. Der Diener, der ihm die Tür öffnete, fragte ihn, auf welche Weise er die Gabe zu bezahlen gedenke. Aus Verzweiflung log der alte Mann und sagte, er sei ein Meister der Kalligraphie und werde ein seltenes und schwieriges Zeichen schreiben. Da diese Fähigkeit das Merkmal eines Gelehrten war, richtete der Diener seinem Meister die Neuigkeiten aus, woraufhin dieser sich bereit erklärte, die Bitte des Mannes zu erfüllen und ihn in sein Haus einlud.
Dem alten Mann wurde ein Raum zur Verfügung gestellt, die Diener brachten Speisen und sorgten sich um alles, was er benötigte.
Am nächsten Morgen wurde ihm Papier überreicht, des Weiteren ein Kalligraphie-Pinsel, ein wertvoller Farbstein sowie ein Stab zum Zerreiben der Farbe. Der alte Mann konnte nur ein einziges Zeichen malen – die Zahl Eins. Zuerst bearbeitete er den Stein um die Farbe zu gewinnen. Dann schrieb er das Zeichen auf jedes Blatt, das ihm gebracht worden war.
Jeden Morgen erkundigte sich der Diener nach dem Fortschritt seiner Arbeit. Auf die Frage antwortete der alte Mann stets, dass sie noch nicht vollendet sei und erbat weitere Bögen Papier. Auf diese Weise vergingen mehrere Wochen. Während dieser Zeit bemalte der Mann mehrere hundert Blätter. Schließlich traute der Mann den Dienern nicht mehr und fühlte im Inneren, dass es Zeit war zu fliehen.
Um sein Leben fürchtend schlich er sich in den Garten, kletterte über die Gartenmauer und rannte so weit, wie ihn seine Füße trugen. Er wusste, dass sie ihn suchen würden, sobald sie seine Abwesenheit bemerkt hatten. Sollten sie ihn erwischen, würden sie ihn mit Sicherheit töten. Er rannte und rannte und hoffte allmählich, dass er der Gefahrenzone entkommen sei, als er vernahm, wie sein Name aus der Ferne gerufen wurde.
Obwohl er weiterrannte, kamen die Rufe immer näher. Völlig erschöpft, setzte er sich schließlich nieder und erwartete sein Schicksal. Als die Diener und Wächter auf ihn trafen, fragte er daher: „Auf welche Weise werdet ihr mich töten?“. Sie antworteten ihm, dass er als Ehrengast wieder im Haus eingeladen sei. Er wurde zu einer reich verzierten Sänfte geleitet, die von zwei Trägern gestützt wurde und für gewöhnlich nur Verwendung fand, um Adelige oder Gelehrte zu transportieren.
Während der Rückreise zum Haus des reichen Mannes war der alte Mann sehr ängstlich und nahm weiterhin an, man würde ihn töten wollen. Dort angekommen, wurde er jedoch tatsächlich als Ehrengast empfangen und in einen großen schönen Raum geführt, in dem der Hausherr, der am Ende des Raumes auf einem Stuhl saß, auf ihn wartete. Ein weiterer Stuhl stand diesem direkt gegenüber.
Der alte Mann wurde gebeten, dort Platz zu nehmen. Nervös kam er der Bitte nach, woraufhin sich der Hausherr an ihn wandte. Er dankte dem Mann freundlich für dieses einzigarte Meisterstück. „Seine Schönheit drückt die disziplinierte Energie, die Geduld, den Fokus und die Zeit, die für die Herstellung der Farbe benötigt wurde sowie die Arbeit, die eingeflossen ist, aus. Es strahlt sowohl den Geist als auch die Kraft aus, die für die Herstellung notwendig waren.“ Der Hausherr ließ das Werk gut sichtbar in seinem Haus anbringen, dankte ihm ein weiteres Mal und überhäufte ihn mit Geschenken und Geld. Glücklich begab sich der alte Mann wieder auf die Reise und dachte über die Komplexität des Lebens nach.
Als er mit dem Schreiben des Zeichens begonnen hatte, war er unruhig und hastig, was sich deutlich in dem Geschriebenen zeigte. Während der vielen Wochen des wiederholten Schreibens dieses einen Zeichens entspannte er sich allmählich und versuchte es nach besten Kräften zu gestalten. Auch gelang es ihm mehr und mehr sowohl seine Atmung als auch seinen Fokus zu kontrollieren, sodass sich seine Fertigkeiten täglich verbesserten. An dem Tag, als er floh, stand das Zeichen, das er so lange übte, in Vollendung und als Ausdruck reiner Schönheit auf dem Papier. Die Entwicklung des Zeichens bis zu diesem Punkt erzählt sie Geschichte der Evolution seiner Fertigkeit.
Die Parabel versinnbildlicht, dass Geduld, Fokus und beharrliche Übung aus scheinbar einfachen Anfängen echte Meisterschaft formen.
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