In einem der frühen Gespräche mit Großmeister Ho Lo erwähnte er mir gegenüber einige sehr interessante Hintergründe zur Linie des Tian Tao Yoga Übungssystems. Unter anderem wies er darauf hin, dass diese Bewegungskunst, da sie Heilung und Einsicht anstrebt, eng mit Kuan Yin, dem Bodhisattva des Mitgefühls assoziiert sei. Die Verbindung findet u.a. in einer Handgeste der Übung „Der Heilige bereitet Elixier“ ihren Ausdruck. Es handelt sich um eine Geste von großer Kraft, die umso mehr zunimmt, je öfter man übt.
Wenn ich in Seminaren Kuan Yin erwähne, ist ihr Name und dessen Bedeutung verständlicherweise für viele unbekannt. Man muss auch nicht zwingend von ihr wissen, um mit dem Bewusstseinspotential der Übungen in Berührung zu kommen; schließlich wirken die Techniken aus sich selbst heraus. Dennoch tragen Geschichten und Assoziationen mit Heiligen oder Weisen eine bestimmte Kraft in sich, die zu inspirieren vermag und die unterstützend wirkt, wenn wir uns auf sie einstimmen.
Bei all den Geschichten und Mythen, die sich um Kuan Yin ranken, stellt sich die Frage: Handelte es sich bei Kuan Yin um einen Menschen, eine Gottheit, einen Archetyp oder ein Amalgam aus allen drei Aspekten? Wir können davon ausgehen, dass jeder Legende, so unglaublich sie auch klingen mag, etwas Wahres zugrunde liegt. Dieses Wahre bezieht sich zum Teil auf die physische Wirklichkeit aber vor allem auch auf eine Wirklichkeit innerhalb der kollektiven Psyche.
Es gibt viele Darstellungen der Kuan Yin, die sich im Wesentlichen auf zwei unterschiedliche Quellen zurückführen lassen: Die Sutren des Mahayana Buddhismus sowie chinesische und indische Folklore. Diejenigen, die durch den Buddhismus inspiriert sind, zeigen sie in einer übernatürlichen Form mit vielen Köpfen und Armen, während die folkloristischen Motive Kuan Yin mit Kindern oder einem Drachenfisch abbilden und so stärker Bezug auf die natürliche Welt nehmen. In beiden Fällen finden wir Symbole wie den Weidezweig und die mit Nektar gefüllte Vase, Symbole für Heilung und Mitgefühl. Die Lotos-Blume repräsentiert Reinheit und Erleuchtung.
Übersetzt bedeutet der Name Kuan Yin: „Sie nimmt alle Klänge des Leidens in der Welt wahr“. Diese Eigenschaft teilt sie mit ihrer männlichen Form, dem Bodhisattva Avalokiteshvara, der ebenso als Inkarnation des universellen Mitgefühls verehrt wird.
Der Titel Bodhisattva bezieht sich auf einen Grad spiritueller Errungenschaft, der über dem Arhat aber unter dem Buddha steht. Als Arhat wird jemand bezeichnet, der bereits geistige Befreiung erlangt hat, aber (noch) nicht das hohe Maß an altruistischer Ausrichtung zeigt wie ein Bodhisattva, welcher die Belohnung der höheren Ebenen, zu welchen er nach der Erleuchtung Zugang hat, vorerst nicht auskostet um den Menschen weiter behilflich sein zu können.
Legenden über Kuan Yin erschienen zuerst vor über 2000 Jahren. In den frühen Mythen kannte man sie vor allem als Beschützerin vor den Gefahren der See und diversen Krankheiten. Ihre Popularität nahm in der Zeit der Song Dynastie (960 -1279) gewaltig zu und blieb bis zum heutigen Tag erhalten. Kuan Yin wird von Buddhisten und Taoisten gleichermaßen verehrt und vor allem in Zeiten von Not und Leid angerufen. Taoisten sehen sie als eine Unsterbliche sowie als Personifizierung einer universellen Energieform, die dem Tao entströmt.
Die Theosophin H. Blavatsky setzt Kuan Yin in der Geheimlehre mit dem weiblichen Logos gleich und bezeichnet sie als göttliche Stimme der Seele.
Eine der vielen Geschichten, die über Kuan Yin erzählt werden, geht wie folgt:
Vor langer Zeit hatte ein König in einem kleinen chinesischen Staat drei Töchter. Da er nach Vermehrung seines Reichtums strebte, wollte er sie an Familien mit entsprechendem Vermögen verheiraten. Aber seine Jüngste, Miao Shan, hatte einen anderen Wunsch. Sie wollte eine buddhistische Nonne werden und sich selbst durch spirituelle Kultivierung vervollkommnen, sodass sie die Welt erlösen könne.
Verständnislos enterbte der König seine Tochter und sandte sie ins Exil. Jahre zogen ins Land und der König wurde todkrank. Ein alter Mönch, der das Königreich besuchte, teilte ihm mit: „um geheilt zu werden, musst du ein Trank zu dir nehmen, der aus den Augen und Armen eines Menschen destilliert wurde, der diese freiwillig dargeboten hat.“ Verzweifelt flehte der König seine älteren Töchter an, die nicht bereit waren, ihm zu helfen. Der Mönch machte daraufhin folgenden Vorschlag: „Auf der Spitze des fernen Berges lebt ein Bodhisattva des Mitgefühls. Sende einen Boten zu ihr und bitte um Erlösung.”
Der wandernde Mönch war kein anderer als eine Transformation von Miao Shan. Nach Jahren mühseliger spiritueller Praxis war sie ein Bodhisattva geworden. Als sie von den Problemen ihres Vaters hörte, verwandelte sie sich in einen Mönch, um dem König jenen Rat zu geben. Später empfing sie den Boten ihres Vaters und antwortete ihm: „Die Krankheit ist eine Strafe für vergangene Sünden. Aber als seine Tochter habe ich die Pflicht ihm zu helfen.“ Sie entfernte ihre Augen und ihre Arme, damit der Bote sie mitnehmen konnte.
Der daraus bereitete Trank brachte dem König sofortige Genesung. Überglücklich wollte er sich bei dem Mönch bedanken, dieser insistierte jedoch darauf, dass er seinen Dank nur dem Bodhisattva selbst entgegenbringen sollte. Also trat der König die Reise zu den Bergen an, um seine Erlöserin reichlich zu beschenken. Beim Eintritt in ihre Höhle musste er mit Erstaunen feststellen, dass es sich bei dem wundersamen Wesen um seine Tochter Miao Shan handelte. In diesem Moment der Erkenntnis füllte sich die Luft mit feinsten Düften und es regnete Blumen von der Decke. Die Höhle wurde in strahlendem Licht gebadet und Miao Shan transformierte sich in ihre heilige Manifestation mit tausend Augen und Armen und schwebte davon.
Der König lies einen Schrein an diesem besonderen Ort auf dem duftenden Berg errichten und begann mit großer Dankbarkeit seine eigene spirituelle Praxis und Meditation.
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